Mahnwache an der Rückriemstele „Wernersstraße“

Seit etwa drei Jahrzehnten finden am 9.11. an allen 10 Stelen im Stadtgebiet Mahnwachen statt. In diesem Jahr war das Pandemie bedingt nicht an allen Stelen selbstverständlich. Um keine zu große Ansammlung von Menschen entstehen zu lassen, war die in der Regel besonders gut besuchte Stele in der Schützenstraße gegenüber dem ehemaligen Standort der Dürener Synagoge der Ausgangspunkt für einen App-unterstützten Informations-rundgang mit Texten und Zeitzeugenberichten. An der Stele in der Wernersstraße hat sich die Schulgemeinschaft der benachbarten Realschule zur Aufgabe gemacht, die Feier zu gestalten. Dies geschah in der Vergangenheit unter Beteiligung der schuleigenen Bläser-band und der Religionskurse der Abschlussklassen unter Anleitung von Schulseelsorger Rudi Hürtgen. Wegen der Covid19-Situation konnten in diesem Jahr keine Schüler*innen bei der Veranstaltung mitwirken. Stattdessen führten Rudi Hürtgen zusammen mit Inge Schumacher, Lehrerin der Realschule Wernersstraße und Mitglied des Sprecherkreises des „Dürener Bündnis gegen Rechts“ durch die Gedenkfeier.

Wir möchten sie mitnehmen in eine Zeitreise und gleichzeitig an das Heute erinnern.

Frau L. aus Düren:
„(…) In der Weierstraße, ich war auf der rechten Seite, hielt plötzlich ein offener Last-wagen neben mir, so dass ich erschreckt zurückwich. Ein bulliger Mann mit dunkler Jacke sprang von diesem Fahrzeug und schlug mit einem Brecheisen das Schaufenster des klei-nen Geschäftes Meyer, Glaswaren, Bilderrahmen, Spielwaren ein. Zwei weitere Männer sprangen hinzu und räumten mit Brecheisen und Äxten die restlichen Scherbenaus dem Fenster. Sodann verwüsteten diese Männer die Geschäftsauslagen und zertrümmerten danach die Trennwand die das Schaufenster vom Ladenlokal trennte. Ich hatte mich inzwischen auf die andere Straßenseite geflüchtet und konnte von dort aus sehen, dass alle diese Männer das innere des Ladens zerstörten. Sie zertrümmerten die Glaswaren und Regale und ich sehe noch heute, wie ein Kinderspielball aus dem Schaufenster auf die Straße rollte(…)“

Warum hier?

In der Wernersstraße, dort, wo heute der Eingang zum Telekomgebäude ist, wurde 1927 das Friedrich-Ebert-Jugendheim der Arbeiterwohlfahrt eingeweiht. Friedrich Ebert war SPD Politiker und der erste Reichspräsident der Weimarer Republik bis zu seinem Tode 1925.
Das Haus hier in Düren, wurde sehr schnell zu einem lebendigen Zentrum der Dürener Arbeiterbewegung. So war es selbstverständlich, dass hier auch die Feier zum 50. Todestag von Karl Marx am 14. März 1933 stattfinden sollte. Aber dazu kam es nicht mehr.
Mitte März 1933 etwa wurde das Heim von SA und SS gewaltsam besetzt und umgetauft in „Schlageter-Heim“. Albert Leo Schlageter war eine jener Figuren, um die die Nazis mit großem Aufwand (und leider beträchtlichem Erfolg) immer wahnwitzigere Legenden sponnen, die sie zu „Märtyrern der NS Bewegung“ hochstilisierten und damit zu Vorbild-figuren für weite Teile der Anhängerschaft machten. Dieses Schlageter-Heim wurde in den folgenden Monaten zu einer regelrechten Zentrale des Terrors.
Viele Sozialdemokraten, Gewerkschafter, insbesondere aber auch Kommunisten wurden hierher verschleppt, verhört, zusammengeschlagen, gefoltert und wieder verhört.
Es muss den Nazis ein sadistisches Vergnügen bereitet haben, die Vertreter der Arbeiter-bewegung in ihren eigenen Räumen in der Gewalt zu haben. Das jedenfalls lässt sich den Zeugenaussagen entnehmen, die anlässlich mehrerer Prozesse in der Nachkriegszeit gemacht worden sind.

Angeklagt war eine Handvoll namentlich bekannter SA-Leute, von denen schließlich der ranghöchste, der SA-Obersturmführer Mundt, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Ein Angeklagter erhielt zwei Monate Gefängnis, die anderen wurden freigesprochen. Diese Urteile erscheinen umso unbegreiflicher, wenn man sich die detaillierten Schilderungen der Brutalitäten in den Zeugenaussagen vor Augen hält. Die nun folgenden Ausschnitte sind repräsentativ für eine große Anzahl ähnlicher Fälle.

Zeuge Joachim Sch.:
„Im Juli 1933 holten mich etwa zehn SA-Leute aus meiner Wohnung, schlugen und misshandelten mich und führten mich anschließend ins Schlageter-Heim. Kaum im SA-Heim angekommen, wurde ich erneut mit Schlägen am Kopf empfangen. Mundt gab die Anordnung zu dieser Prügelverteilung und wohnte der ganzen Szene bei und fragte mich u. a.: ,Wen kassieren Sie Hund noch? ́ Ich antwortete ihm: ,Ich habe nichts zu kassieren. ́ Nach mehrmaliger Wiederholung der gleichen Frage sagte Mundt: , Geben Sie dem roten Lump mal die erste Auflage. ́ Dann wurde ich gefasst und wurde mit Stahlruten und Karabinerhaken zerschlagen. Nach dieser Tortur habe ich noch vier Auflagen erhalten, bis ich schließlich bewusstlos war. Ferner wurde ich angespuckt und man versetzte mir einen Kinnhaken nach dem anderen. In diesem bewusstlosen Zustand schmiss man mich unweit der Baracke auf einen Sandhaufen. Dort kam ich nach längerer Zeit zur Besinnung. Ich öffnete die Augen und sah, dass ein SA-Mann mit Karabiner bei mir Posten stand. Nach kurzer Zeit erschien ein anderer SA-Mann, ob es Mundt war, kann ich nicht sagen, und sagte: ,Bei dem brauchst du nicht Posten zu stehen, der verreckt ja doch! ́ Daraufhin ging der Posten zur Baracke zurück, und ich kroch auf allen Vieren hinter die Baracke und flüchtete zur Arnoldsweilerstraße in ein Kohlelager. Dort verblieb ich dann unter Kohle-säcken versteckt bis abends. Im Schutz der Dunkelheit ging ich nach Lendersdorf, kühlte mein sehr entstelltes Gesicht mit essigsaurer Tonerde und fuhr am da rauffolgenden Tag nach Aachen. Nach 16 Wochen waren noch immer die Spuren der Prügel sichtbar.“

Nationalsozialistisches Gedankengut existiert bis zum heutigen Tage und über diesen Moment hinaus in den Köpfen viel zu vieler Menschen. Rechtsextreme Sprüche und Parolen sind längst nicht mehr nur hinter verschlossenen Türen oder in Bierlaune an der Theke anzutreffen, sondern tauchen inzwischen regelmäßig in Bundestagsdebatten auf. Worte bereiten den Weg für Taten. Rechtsextreme Anschläge geschehen in trauriger Regelmäßigkeit.

Amadeu António Kiowa gilt als eines der ersten Todesopfer rechter Gewalt nach dem Mauerfall. Am 24. November 1990 gerät er in Eberswalde an eine Gruppe junger Neonazis, die „irgendwelche Ausländer zusammenkloppen“ wollen. Sie schlagen ihn brutal zusammen und springen mehrfach auf seinen Kopf, als er am Boden liegt. Zwei Wochen später stirbt Kiowa an den Folgen des Angriffs.

Nach Amadeu António Kiowa wurde eine Stiftung benannt. Sie kam nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle in ihrer Zählung auf mindestens 198 Tote seit der Wiedervereinigung.

Ein prominentes Opfer rechter Gewalt im Jahr 2019 ist der CDU – Politiker Walter Lübcke. Es war der erste tödliche Anschlag eines Rechts-extremisten auf einen Politiker im Nachkriegs-deutschland. Mit seinem Eintreten für die Rechte von Geflüch-teten erzürnte er die rechte Szene in ganz Deutschland – und mutmaßlich den Rechtsextremen Stephan E. so sehr, dass er zur Waffe greift und Lübcke am 2. Juni 2019 aus nächster Nähe erschießt. Nach seiner Verhaftung legt er zunächst ein Geständ-nis ab, das er immer wieder abändert.


Am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, begeht der Rechts-radikale Stephan B. einen Anschlag auf die Synagoge in Halle. Er hat den Plan gefasst, viele Menschen zu töten, eine Helmkamera soll seine Taten filmen. Stephan B. scheitert daran, in die Synagoge vorzudringen, die an diesem Tag nicht bewacht wird und in der sich rund 50 Menschen zum Gottesdienst versammelt haben. Als sein Plan nicht aufgeht, erschießt Stephan B. mit einer selbstgebauten Waffe eine Passantin und einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss. Auf seiner Flucht verletzt er zwei Menschen, dann wird er festgenommen.

Am 19. Februar 2020 in der hessischen Stadt Hanau zehn Personen ermordet. Der Täter erschoss neun Personen in und vor zwei Shishabars und auf der Fahrt zwischen beiden Orten. Später erschoss er in der elterlichen Wohnung seine Mutter und sich selbst.

Die 35-jährige Mercedes Kierpacz war deutsche Staatsbürgerin und Angehörige der nationalen Minderheit der Roma. Sie hatte am Tatabend in der Arena Bar gearbeitet und hinterlässt zwei Kinder, einigen Medienberichten zufolge war sie mit einem dritten Kind schwanger.

Der 30-jährige Sedat Gürbüz war der Besitzer der Shishabar Midnight. Er hinterlässt einen Bruder.

Der 37-jährige Gökhan Gültekin war in Hanau geboren, seine aus Ağrı stammende kurdische Familie lebte seit 1968 in Hanau. Er war gelernter Maurer und arbeitete nebenberuflich als Kellner.

Die Familie des 20-jährigen Hamza Kurtović, der beim Warten auf seinen Freund an der Arena Bar erschossen wurde, stammte aus Bosnien und Herzegowina. Bereits sein Vater wie auch seine zwei Brüder und seine Schwester waren in Deutschland geboren. Kurtović hatte gerade seine Ausbildung abgeschlossen und wohnte in der Nähe des Täters.

Der 33-jährige Bulgare Kaloyan Velkov lebte laut dem bulgarischen Außenministerium seit zwei Jahren in Deutschland und war der Wirt der Bar La Votre neben der Shishabar Midnight. Er hinterlässt einen kleinen Sohn.

Der 23-jährige Rumäne Vili Viorel Păun war als 16-Jähriger nach Deutschland gekommen, um Geld für eine medizinische Behandlung seiner Mutter zu verdienen. Er arbeitete bei einem Kurierdienst. Er war Rom und das einzige Kind seiner Eltern.

Der 21-jährige Said Nesar Hashemi war Deutsch-Afghane mit doppelter Staatsbürgerschaft und in Hanau aufgewachsen. Er war ausgebildeter Maschinen- und Anlagenführer. Sein 23-jähriger Bruder überlebte schwer verletzt.

Der 34-jährige Fatih Saraçoğlu war vor drei Jahren aus Regensburg nach Hanau gezogen, auch er starb in der Shishabar Midnight.

Die 72-jährige Gabriele Rathjen war die Mutter des Täters und Hausfrau.


Die genannten Personen stehen beispielhaft für viele, viele weitere Opfer national-sozialistischer und rechtsextremer Gewalt seit den Ereignissen, an die uns diese Stele erinnern soll.

Klirrendes Glas, prasselnde Flammen, zusammenstürzende Mauern: Ein Stück Dürener Kultur wird vernichtet. Am frühen Morgen des 10. November 1938 erlebt die brutale Verfolgung der deutschen Juden einen vorläufigen, für die ganze Welt sichtbaren Höhe-punkt. Wie überall im Reich wird auch in Düren die Synagoge angezündet, zerstören SA und SS als Träger des staatlich verordneten „Volkszorns“ alles, was ihnen als jüdisch bekannt ist. „Düren war nach diesem 10. November eine andere Stadt geworden“, wird sich später eine Zeitzeugin erinnern. Arbeiten wir daran, dass sich dieses nie wieder in Deutschland und in unserer Stadt wiederholen wird.“

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