„5 vor 12 – Zeit für Demokratie“ am 30.03.2023

In der Rückschau erscheint bereits das Jahr 1932 als das Jahr des Scheiterns der Weimarer Republik: die NSDAP fährt erhebliche Stimmengewinne ein (+19 Prozent auf 37 Prozent), die SPD-Regierung in Preußen wird mit der Billigung Hindenburgs abgesetzt und im Hinterzimmer loten Barone aus, wie man die Nazis am besten “einrahmen” könnte. Doch die damaligen Demokraten gaben noch nicht auf, nein, sie kämpften leidenschaftlich für die Demokratie. Ein Schriftsteller tat sich dabei besonders hervor: Heinrich Mann, wohl einer der aufrichtigsten und engagiertesten Demokraten der Weimarer Republik. Anders als sein Nobelpreisträger-Bruder Thomas schwieg Heinrich nicht über die Nazis und ihre, Zitat, “eklatante Dummheit”. Damit zog er den Hass der Nazis auf sich und musste ins Exil. Bei der ersten Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 schrie der Nazi-Clown Goebbels zu Beginn: “Ich übergebe dem Feuer die Schriften von Heinrich Mann.”

Heinrich Mann hat Weimar bis zuletzt nicht aufgegeben und tourte 1932 geradezu durch Deutschland, hielt Reden für die Demokratie und gegen die Nazis. Eine davon, sie erscheint aktueller denn je, möchte ich hier, in leichter Bearbeitung, vorlesen. 

“Während des ganzen 19. Jahrhunderts sind Freiheiten und Rechte verkündet und gelehrt, erworben und erkämpft, verteidigt, verloren und wiedererrungen worden. Ihr Wert ist bezeugt durch die Anstrengungen vieler Geschlechter, durch die Erkenntnisse der Denker, die Zustimmung aller, durch unendliche Begeisterung und nie zu vergessene leiden. Die Ziele, nach denen unsere Vorfahren und noch wir selbst unser ganzes sittliches Leben gerichtet haben, sind besonders folgende: 

1. Die nationale Freiheit. Sie umfasst zuerst und vor allem die Sicherung der Nation gegen innere Vergewaltigung. Das ist der immer gültige Begriff der nationalen Freiheit. Dagegen hat die nationale Unabhängigkeit nach außen einen Sinn, der niemals auch nur 50 Jahre derselbe bleibt. Bayern stand früher in Deutschland unabhängiger da, Deutschland früher in Europa.
2.  Die Freiheit des Einzelnen. Sie bedeutet zweierlei: der einzelne unterliegt keiner Willkür; und der darf tun, was ihn beliebt, soweit er keinen anderen schädigt.
3.  die Gleichheit vor dem Staat und vor dem Gesetz. Vor dem Staat gibt es nur Staatsbürger, keine Klassen, Parteien, Nationalitäten. Das Gesetz kennt nur Rechtssuchende, keine Klassen, keine Parteien, Nationalitäten.
4.  die Mitbestimmung im Staat und im Gesetz vermittels des passiven und des aktiven Wahlrechts.
5.  das Recht und die Freiheit der Meinungen, sich öffentlich zu äußern in Wort, Schrift, Darstellung, Kundgebungen.
6.  die Freiheit der Forschung und ihrer Lehre.
7.  die Freiheit der Kunst und ihrer Darbietung.
8.  die sozialen Rechte. das Recht der wirtschaftlich Schwachen sich zusammen zuschließen, der Kinder, geschont zu werden, der Kranken, gepflegt zu werden, der Greise, nicht zu verhungern, der Erwerbslosen, zu wohnen und zu essen.
9.  das Recht auf Leben als Grundlage aller Rechte und Freiheiten. Das Recht der Gesellschaft auf ihre Gesittung, das Recht des Einzelnen, gesichert in ihr zu leben.

All dies ist lebensfördernd, wie jeder Mensch mit gesunden Sinnen sofort bemerkt. Es ist gemeint als fruchtbare Gegenwirkung gegen die zerstörenden, verneinenden Kräfte: Krieg, Unterdrückung, Ausbeutung, Entwürdigung des Menschen, Nichtachtung des Lebens. Wirklich und endgültig erreicht wurde dies alles nie. Denken wir nur an die sozialen Rechte, die zuletzt doch dahin führen sollten, daß es keine Überreichen und keine ganz Armen mehr gibt! Das ist nicht erreicht. Aber das Leben muß täglich erobert werden, damit man es nicht verliert, und so auch die Freiheiten und Rechte. Es sind, da sie so viel Kampf verlangen, viel eher Pflichten und Gebundenheiten. Die ganze Demokratie, als genaues Abbild des Lebens, ist im Grunde Pflicht und Gebundenheit. Das fängt an mit dem Gebot, das Leben der anderen zu achten, und endet mit dem Anspruch an jeden einzelnen, zu denken, die Gesellschaft zu begreifen und verantwortungsvoll an ihr mitzuarbeiten.
Die Demokratie ist eine Schule mit so vielen Klassen, so vielen Prüfungen, wie das Leben selbst. Nicht jedes Volk erreicht und besteht alle, und innerhalb des einzelnen Volkes sind immer eine gewisse Anzahl Schüler ausgesprochen schlecht. Es kommt nicht überall und nicht alle Tage vor, daß die Zurückgebliebenen gleich die Schule in Brand stecken möchten. Aber so ist es heute in Deutschland. Sie möchten brandstiften, um nicht lernen zu müssen, und inzwischen grölen sie, treiben Unfug und vergreifen sich tätlich an “politischen Gegnern”, wenn dumme Jungen überhaupt politische Gegner haben könnten.
Die faulen Schüler grölen im Sprechchor: “Wir scheißen auf die Freiheit!” Allerdings. Diese körperliche Fähigkeit bleibt ihnen immer noch übrig, wenn sie für alles andere zu unbegabt und zu pflichtvergessen sind. Ihr Redner im Rundfunk verkündet patzig: “Das intellektuelle Denken lehnen wir ab!”
Ihr einziger Ehrgeiz ist: Note eins im Turnen. Schritt und Tritt, Grüßen, Griffe, Sprechchöre, Kommandos und blindes Gehorchen: damit, glauben sie, ist es zu schaffen. Das genügt aber nicht; sondern wenn man in allem anderen schlecht ist, fliegt man eines Tages aus der Schule. Dies steht vollkommen fest. Die Schule bleibt, und die Unfähigen fliegen.
Die Demokratie ist eine befestigte, nie mehr aus der Welt zu entfernende Tatsache. Sie ist das Leben selbst, auf der Stufe, die nun einmal erreicht ist. Die Faschisten sind auch nur Demokraten. Sie begehen bloß die alberne Verwechslung, sich selbst für die alleinigen Nutznießer der Demokratie zu halten – nur Rechte, keine Pflichten. Man hat sich aber zu fügen.  Man hat die Freiheiten und Rechte zu erwerben durch Erlernung der Pflichten und Gebundenheiten. Ließe ein ganzes Volk, z.B. das deutsche, sich von den schlechten Lebensschülern verleiten, dann würde es leider solange Schläge bekommen vom Leben und von der Welt, bis es endlich in der untersten Klasse von vorn wieder anfangen müßte zu lernen. Mehr wäre nicht gewonnen!
Aber die vernünftigen und brauchbaren Lebensschülern sind in Deutschland die Stärkeren. Sie werden dafür sorgen, daß uns das Schlimmste erspart bleibt.”

Dieser Beitrag wurde unter Startseite veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.