Wir heißen Ute Nebel und Daniela Groß, wir sind Sozialarbeiterinnen und arbeiten im Stationären Hospiz am St. Augustinus Krankenhaus in Lendersdorf.
Wir möchten Ihnen gern u.a. etwas über Erinnerungen von Menschen berichten, die bei uns im Hospiz gelebt haben. Starten wollen wir mit einem Gedicht, dessen Verfasser vermutlich der Schriftsteller Jorge Luis Borges aus Argentinien war.
Das Gedicht heißt:
Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte
„Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
Ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin.
Ich wüsste viel weniger Dinge, die ich wirklich sehr ernst nehmen würde.
Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen.
Ich würde mehr Berge besteigen und mehr Sonnenuntergänge betrachten.
Ich würde mehr Eis und weniger Salat essen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens vorausschauend und vernünftig leben,
Stunde um Stunde, Tag für Tag.
Oh ja, es gab schöne und glückliche Momente,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen,
nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben; nur aus Augenblicken;
vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen.
Ich würde vieles einfach schwänzen,
ich würde öfter in der Sonne liegen.
Aber siehst du, … ich bin 85 Jahre alt und ich weiß, dass ich bald sterben werde.“
Ein Gedicht voller Leichtigkeit und Humor aus unserer Perspektive heraus.
Unsere Aufgabe im Hospiz ist es unter anderem, mit unseren Gästen über ihre Lebensgeschichten zu sprechen, um Unerledigtes, Sorgen und Nöte sowie Wünsche und Bedürfnisse erfassen zu können. Und so haben wir im Laufe der letzten15 Jahre eine große Fülle unterschiedlichster Erinnerungen auch aus den Jahren zwischen 1933 bis 1945 und darüber hinaus gehört. Oft sehr Schweres, von Gewalt und Ohnmacht geprägt.
An einigen wenigen Erinnerungen möchten wir Sie ganz kurz teilhaben lassen:
„Ich war als junger Mann in Auschwitz im Konzentrationslager, ich war Geigenspieler, deshalb habe ich überlebt.“
„Mit 14 Jahren habe ich meine Großmutter mit einem Rollstuhl vom heutigen Polen bis ins Rheinland geschoben.“
„Als wir aus der Evakuierung zurückkamen war niemand da, aber meine Katze kam mir plötzlich entgegengelaufen.“
„Mit 15 Jahren wurde ich als Flakhelfer eingezogen. Ich bin weggelaufen und habe mich versteckt. Die Gefahr war mir nicht bewusst…“
„Als ich 10 Jahre alt war, habe ich mich mit meinem besten Freund gestritten, es war der 15. November 1944. Als ich ihn am Tag danach wiedersah, wurde er tot auf einer Tür liegend an mir vorbei getragen. Sein Arm hing unter einem Tuch hervor. Ich habe mich nie mit ihm versöhnen können…“
„1945 bin ich als 18jährige nach Sibirien verschleppt worden. Erst nach drei Jahren durfte ich nach Hause zurückkehren.“
Es gibt viele viele weitere traumatische Erlebnisse aus dieser Zeit und wir sind oft die ersten am Lebensende, mit denen diese Erinnerungen geteilt werden, besonders dann, wenn es um sexualisierte Gewalt geht.
Gewalt gibt es leider in allen Zeiten, aber nicht so geballt und so grausam wie in diesen Jahren.
Das eben vorgetragene Gedicht wäre nach den Erlebnissen unserer Gäste wohl etwas anders verfasst worden. Und wir haben einen Versuch gewagt, das Gedicht heißt immer noch:
Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte
„Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
würde ich versuchen, meine Familie zu beschützen.
Ich würde versuchen mutiger zu sein und meine Angst nicht gewinnen lassen.
Ich wüsste viele Dinge, die ich wirklich sehr ernst nehmen würde.
Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich versuchen, früh genug für die Demokratie zu kämpfen und mich nicht einschüchtern lassen.
Ich würde versuchen zu überleben.
Vielleicht aber würde ich versuchen, das Land zu verlassen.“
Beim Schreiben haben wir gemerkt, wie ohnmächtig und sprachlos die damals sehr jungen Menschen dem faschistischen, gewalttätigen und grausamen Regime wohl gegenübergestanden haben mögen. In ihrer Kindheit hatten die Verbrecher bereits die Macht übernommen, was die erwachsenen Menschen nicht verhindert hatten.
Die Erinnerungen unserer Hospizgäste sind oft so berührend, beängstigend und schwer, dass wir uns fragen: Was können wir aus dem Erlittenen der Generationen vor uns verstehen und entsprechend handeln, damit wir und die künftigen Generationen einmal nicht auf solch traumatische Erlebnisse zurückschauen müssen?
Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat einen sehr beeindruckenden Satz formuliert: Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.
Wenn wir uns vorstellen den Satz: „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“ zu erweitern, könnte er so lauten:
Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden, verstanden auch von Kindern, Enkelkindern und Urenkelkindern.
Wenn wir das tun, könnte das Gedicht von Borges noch mal anders heißen und auch anders lauten. Und wir haben einen weiteren Versuch gewagt:
„Wie ich mein Leben ab jetzt leben will“
Ich will versuchen, mutiger zu sein.
Ich werde aktiv für Demokratie eintreten.
Ich versuche, ein bisschen toleranter zu werden.
Ich weiß einige Dinge, die ich wirklich sehr ernst nehme.
Ich will mehr riskieren und mich mehr einmischen.
Ich werde mehr Politisches sagen und mich mehr für Vielfalt einsetzen.
Ich will schöne und glückliche Momente und gute Augenblicke haben in Freiheit und Vielfalt.
Ab jetzt werde ich die Vielfalt in unserem Lande noch mehr genießen und wertschätzen.
Ich will versuchen, rassistische Äußerungen immer zu kommentieren und darauf aufmerksam zu machen.
All dies will ich versuchen Tag für Tag, Stunde für Stunde.“
Aus dem Hospiz.
Und trotzdem dürfen wir in der Sonne liegen und mehr Eis und weniger Salat essen.
Ein Schlusssatz noch: Ganz viele der Menschen, die in diesem Land Schutz suchen, haben traumatische Erinnerungen und brauchen unsere Unterstützung, damit Ihre schlimmen Erinnerungen möglicherweise ein wenig verblassen können und sie hier in Frieden und Freiheit leben dürfen.
Vielen Dank, dass Sie uns zugehört haben.