Den Rassismus offensiver dekonstruieren

Unser neues Sprecherkreismitglied Emmanuel Ndahayo sandte folgenden Text an die Redaktion:

Den Rassismus offensiver dekonstruieren
(Autor :Emmanuel Ndahayo)
In der Vergangenheit wurde der Rassismus auf Basis einer Ideologie der Überlegenheit bzw. Unterlegenheit von Menschen gegenüber anderen Menschen auf Grund ihrer Zughörigkeit, ethnischen Herkunft, Hautfarbe, Kultur, etc. praktiziert. Rassismus basierte demgemäß auf Theorien und Glauben, nach denen Menschen rassisch und biologisch unterschiedlich sind. Viele pseudowissenschaftliche Untersuchungen wurden darüber durchgeführt und unzählige Pseudothesen entwickelt. Nicht nur in pseudowissenschaftlichen, sondern auch in religiösen, politischen, sozialen und kulturellen Milieus fand der Rassismus Vertreterinnen und Vertreter. Dies führte zur Sklaverei einiger Menschen durch Andere, zur Kolonisierung von Staaten durch Andere, zur Apartheid und Diskriminierung von Bürgerinnen und Bürgern durch andere Bürgerinnen und Bürger oder durch ihre Staaten, etc. Im Kampf gegen Rassismus wurde viel getan, aber der Rassismus ist wie ein Chamäleon, verbirgt sich und resistiert, weil er ständig, je nach Umfeld, neue Farben annimmt. Mit diesem wechselhaften Charakter bleibt er nach wie vor schädlich und nicht nur schwer zu bekämpfen, sondern er wird oft nur defensiv bekämpft.
Rassismus gestern und heute
Wohingegen der Rassismus sich in der Vergangenheit hauptsächlich auf Behauptung stützte, dass es menschliche Rassen gibt, die sich biologisch unterscheiden und dass Menschen daher auf Basis ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe unterschiedliche Fähigkeiten bzw. Unfähigkeiten besitzen und auch unterschiedlich behandelt werden sollten, stützt der Rassismus sich seit dem Ende des zweiten Weltkrieges überwiegend auf gesellschaftlich und kollektiv konstruierte abwertende Prägungen gegen Andere, die sich durch Abgrenzung oder Distanzierung von „Uns“ befestigen (vgl. Gaitanides 2012: 8). Diese Konstruktion führt zu Privilegien für Einige und zu Benachteiligungen oder Angriffe für Andere. Mit dem Begriff gesellschaftlich werden verschiedene Bereiche wie wirtschaftlich, sozial, kulturell, religiös, politisch, etc. gemeint. Wie dann der Andere als Mitglied einer realen oder imaginären Gruppe gesellschaftlich angesehen, beurteilt, verstanden, konstruiert und behandelt wird, führt zu seiner Anerkennung, Akzeptanz, gesellschaftlichen Teilhabe, etc. oder zur Stigmatisierung, Diskriminierung, Ungerechtigkeit, Xenophobie, Gewalt, etc. gegen ihn. Mit dieser Ansicht bestätigt sich die Auffassung des Rassismus durch den jüdisch-arabischen Soziologen und Schriftsteller Albert Memmi (1987: 164), der den Rassismus als „die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen“ sieht.
Stefan Gaitanides (2012: 4-8), Professor und Forscher, der sich u.a. mit dem Thema Rassismus be-schäftigt, findet den Memmis Definitionsversuch des Rassismus den treffendsten und klarsten und erläutert ihn in vier Elemente: (1) Beim Rassismus wird ein Akzent ausdrücklich auf tatsächliche oder/und fiktive Unterschiede zwischen Rassisten und Opfern gesetzt; (2)Diese Unterschiede werden bewertet und maximiert zum Nutzen der Rassisten und zur Benachteiligung der Opfer; (3)Die Unterschiede werden als absolut, endgültig und allgemein konstruiert ;(4) Tatsächliche oder mögliche Aggressionen oder Schaden auf der einen Seite oder tatsächliche oder mögliche Privilegien auf der anderen Seite werden legitimiert. Gaitanides macht einen Unterschied zwischen dem alten biologischen und dem neuen kulturalistischen Rassismus, aber fügt hinzu, dass die beiden Formen des Rassismus sich mischen und überschneiden. Noch interessanter in seiner Analyse ist der Vergleich der von Rassismus erfüllten Funktion in der Gesellschaft: Die beiden Formen des Rassismus sind profitabel für Einige und schädlich für Andere.
Die Definition von Memmi und die Interpretation von Gaitanides führen mich dazu, den Rassismus in drei Dimensionen zu analysieren: (1) bei der ideologischen/konzeptuellen Dimension verknüpft der Rassismus sich mit rassistischen Theorien und Thesen, die sich oft auf pseudowissenschaftliche Befunde stützen; (2) bei der Wahrnehmungsdimension wird ein konstruiertes Bild von „uns“ (Selbstbild) und von „ Anderen“ (Fremdbild) als Mitglieder einer realen oder fiktiven Gruppe konstruiert; (3) die praktische Dimension ist als Folge von den zwei ersten Dimensionen anzusehen und zeigt sich durch Diskriminierung, Beschimpfung, Stigmatisierung, Gewalt, Ungerechtigkeit, Mangel an Menschenwürde gegen Andere, Sklaverei, Kolonialismus, etc. So kommt man zum Nutzen der Situation für Einige und zum Schaden für Andere. Die Begründung dieser Praxen stützt sich auf die beiden ersten Dimensionen. Wohingegen die beiden ersten Dimensionen Menschen kollektiv betreffen, kann die Dimension der Praxis des Rassismus sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene stattfinden. Rassismus kann daher als eine durch Menschen gegen Menschen auf Basis von pseudobegründenden Theorien und von in der Gesellschaft konstruierten Wahrnehmungen praktiziertes Unrecht und Ungerechtigkeit, die als Folge Nutzen oder Schaden haben, betrachtet werden. Zusammengefasst ist der Rassismus eine Art der Inklusion von Einigen und Exklusion von Anderen in Bezug auf Privilegien.
Dekonstruktion des Rassismus
Der Rassismus wird also auf drei Ebenen konstruiert, pseudobegründet, verinnerlicht und praktiziert. Nicht nur Nutzer sondern auch Opfer des Rassismus konstruieren, pseudobegründen, verinnerlichen und praktizieren den Rassismus. Auf diese Weise praktizieren viele Menschen Rassismus gegen sich selbst. So war Frantz Fanon (1952) der Meinung, dass Rassismus im Unbewusstsein vieler schwarzer Menschen vorkommt, die Opfer dieses Rassismus waren (oder immer noch sind), da sie auch rassistische Wahrnehmungen verinnerlicht und in der Praxis gegen sich selbst unbewusst umgesetzt haben (oder umsetzen).
Die Welt ohne Rassismus wäre die Welt voller Gleichheit, in der Menschen nicht durch Dinge ersetzt werden und in der kein Mensch von anderen dominiert wird (vgl. Fanon: 1952: 189). Es ist wichtig für die Gegen-Rassismus-Aktivisten sich zu fragen, ob eine volle Gleichheit in dieser Welt erreichbar ist. Es lohnt sich optimistisch zu sein und zu glauben, dass die Gleichberechtigung erreicht werden kann und sich dafür einzusetzen. Es ist aber besser realistisch zu sein und zu akzeptieren, dass der Kampf gegen Rassismus nicht einfach ist und dass man sich auf einen langen und heldenhaften Kampf vorbereiten und erklären sollte, wenn man sich auf den Weg der Anti-Rassisten begibt. In der heutigen Realität plädiere ich dafür, um den Rassismus zu dekonstruieren, den Begriff Rassismus nicht nur auf „Hass“, „Beschimpfungen“ und „ physische Gewalt“ gegen Opfer zu beschränken. Rassismus ist mehr als das und sollte auf den drei Ebenen (Theorie, Wahrnehmung, Praxis) bekämpft werden. Rassismus sollte also auf der Ebene der Gleichheit und der Gleichberechtigung in Theorie und Praxis und auf der Ebene der gesellschaftlich konstruierten Wahrnehmungen bekämpft werden.
Offensive Dekonstruktion des Rassismus in unserer Gesellschaft
In ihrem Artikel in der Mitbestimmung von Mai 2014, einer Zeitschrift der Hans-Böckler-Stiftung berichtet Goddar (2014:42-45) über die Ergebnisse der Untersuchung aus dem Forschungsbereich beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Bei dieser Forschung wurde herausgefunden, dass Diskriminierung in Deutschland auf dem Ausbildungsmarkt nach Herkunft oder nach dem Klang der Namen der Bewerberin oder Bewerber fühlbar ist. Sie schrieb, dass es einen deutlichen Unterschied macht, ob der Bewerber Yilmaz oder Schultheiß heißt. Goddar benachrichtigt auch über einen im Auftrag des Bildungsministeriums 2010 über die Lage auf dem Ausbildungsmarkt durchgeführten Berufsbildungsbericht, der darauf hinwies, dass aus Osteuropa stammende Besitzerinnen und Besitzer eines Hauptschulabschlusses auf ein gleiches Niveau wie Abiturienten mit türkischer oder arabischer Herkunft in Deutschland gesetzt werden. Auf Basis der Befunde aus von mir durchgeführten Interviews in Bezug auf meine Dissertation wird diese Realität bestätigt. Der Satz „meine Hautfarbe ist mein Ausweis“, den ich bei einer Befragung gehört habe, klingt immer noch in meinem Ohr. Merkwürdig bei dem Artikel von Goddar (2014: 42) ist zu erfahren, dass die Forscher von SVR vermeiden, diese Realität Rassismus zu nennen. Stattdessen sagen sie: „Menschen tendieren dazu, Menschen auszuwählen, die ihnen ähnlich sind… dazu kommen Befürchtungen wie: Was werden die Kunden denken? Werden die Kollegen damit klarkommen?“. Befinden wir uns an dieser Stelle nicht auf erster Dimension (konzeptueller und ideologischer Begründungsversuch des Rassismus) und auf zweiter Dimension (in der Gesellschaft konstruierte Wahrnehmungen)? Diese Diskriminierung auf Basis der Herkunft oder des Hintergrunds, anders gesagt auf Basis der Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Mehrheitsgesellschaft /Minderheiten) ist eine von mehreren Formen des Rassismus in unserer Gesellschaft, die zu bekämpfen sind.
Ich beziehe mich auf die Meinung von Gaidanides (2012: 8) und spreche dafür, dass der Rassismus durch den Kampf gegen Ungleichbehandlung, gegen Bildungsbenachteiligung, gegen Schwierigkeiten bei der Umsetzung der erworbenen Bildungsabschlüsse in angemessene Beschäftigungen, gegen einen nicht-menschenwürdigen Umgang mit Benachteiligten, gegen Diskreditierungen, Diffamierungen und Stigmatisierungen einiger Menschengruppen, etc. dekonstruiert wird. Der Staat und die Städte, die für die Gleichstellungen aller Bürgerinnen und Bürger und die für die Umsetzung der in unserem Grundgesetz stehenden Menschenwürde zuständig sind, müssen bei dieser Dekonstruktion offensiver handeln. Staatliche Institutionen und Einrichtungen sollten ein Vorbild für den Rest der Gesellschaft sein, in dem sie offener auch für nicht-deutsch Aussehende Bürgerinnen und Bürger werden.
Fazit
Der Rassismus verknüpft sich mit Machtverhältnissen zwischen Menschen als Mitglieder von Grup-pen oder Bündnissen und dehnt sich auf die Gesellschaft d.h. auf politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, religiöse Bereichen etc. aus. Die Realität der Welt und unserer Gesellschaften muss also bei der Bekämpfung des Rassismus berücksichtigt werden. Der Rassismus ist sowohl bei den Tätern als auch bei den Opfern zu bekämpfen. Denn auch Opfer sind oft unbewusst Rassisten gegen sich selbst und viele Täter wissen nicht, dass sie Rassisten sind. Der Rassismus dient am Ende zum Nutzen von Einigen und zum Schaden von Anderen. Rassismus ist also mit der Verteidigung oder dem Streben nach kollektiven oder/und individuellen Interessen verbunden. Ob Menschen von ihrer Natur aus bereit sind auf ihre Privilegien zu verzichten oder die Gleichheit für Alle zu erlauben, ist die Frage, die bei dem Kampf gegen Rassismus nicht zu unterschätzen ist. Der Staat muss sich dabei noch stärker machen.
Literatur
Fanon, Frantz (1952). Peau noire masques blancs. Paris, Editions du Seuil.
Goddar, Jeannette (2014). Yilmaz oder Schultheiß. Wenn der Name entscheidet. In Mitbestimmung. Das Magazin der Hans-Böckler-Stiftung. Frankfurt a.M., Bund Verlag.
Memmi, Albert (1992). Rassismus. Frankfurt a.M.
Gaitanides, Stefan (2012). Über die Aktualität der „klassischen“ Rassismus-Definition von Albert Memmi. In Migration und Soziale Arbeit. 34.Hahrgang 2012, Heft 1. Beltz Juventa.

 

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