„5 vor 12 – Zeit für Demokratie“ am 13.09.2025

Rede von Irina Nekrasov

Hallo! Danke, dass ich hier heute einen Tag vor den Kommunalwahlen in NRW sprechen darf. Danke an alle, die diese wunderbare Veranstaltung organisieren.

Seit Juli bin ich in der Region als Autor*in in einem Residenzstipendium. Seit Juli spaziere ich durch die Eifel, lese Bücher und schreibe an meinem ersten Roman. Klingt eigentlich idyllisch! Aber in meinem Roman geht es um die stalinistischen Verbrechen, die an meiner Familie verübt worden sind. Die Bücher, die ich lese, sind Sachbücher über den Stalinismus. Und der Wald, durch den ich laufe, war einer der verlustreichsten Kriegsschauplätze an der westlichen Front im Zweiten Weltkrieg.

Am 12. September überquerten die Alliierten die deutsche Grenze bei Aachen, und die Schlacht im Hürtgenwald begann kurz darauf. Das war gestern vor 81 Jahren. Im Hürtgenwald sind mindestens 33.000 US-Amerikaner1 im Kampf gegen Nazi-Deutschland gefallen, verwundet worden oder verschollen. Und das nur wenige Monate vor der deutschen Kapitulation, als der Krieg aus deutscher Sicht eigentlich schon längst nicht mehr zu gewinnen war. Es ist unklar, wie viele Wehrmachtssoldaten gefallen sind; auf deutscher Seite hat keiner mehr so richtig gezählt2. Die Infrastruktur war schon nicht mehr da. Aber Goebbels hatte zum „Totalen Krieg“ ausgerufen, und das hat dazu geführt, dass mit jedem Tag, den die deutschen Soldaten die Stellung hielten, das Morden in den Konzentrationslagern weitergehen konnte. Allein in Auschwitz starben inklusive der Todesmärsche in diesem Zeitraum noch zehntausende Menschen.

Nicht weit von hier, in Düren-Arnoldsweiler, wurden sowjetische Zwangsarbeiter in einem Außenlager festgehalten. Nach dem Krieg wurden 1.552 sowjetische Staatsangehörige aus der Erde ausgegraben. Und im Hürtgenwald? Da brannte es in den Sommern nach dem Krieg, denn die zurückgelassene Munition der Amerikaner beinhaltete Phosphor, was bei hohen Temperaturen zu Brand geführt hat. Der Wald brannte. Deutsche Kinder der Nachkriegsgenerationen verletzten sich und starben an den Minen, die nur wenige Jahre vorher deutsche Soldaten vergraben hatten. Es dauerte Jahrzehnte, bis der Wald mehr oder weniger entmint war.3

Ihr denkt euch vielleicht: „Du kommst gar nicht von hier, warum erzählst du uns unsere Lokalgeschichte?“ Es stimmt, ich lebe seit 11 Jahren in Leipzig, Sachsen,  Ostdeutschland, AfD-Paradies, dies das – darüber spreche ich später noch. Aber nachdem ich mit meiner Familie in Deutschland ankam, hat der Königsberger Schlüssel uns nach NRW gebracht. Wenn ihr euch fragt, wer oder was dieser Schlüssel ist – es ist das Instrument, das entschieden hat, wo meine Familie hinziehen darf. Deutschland wollte nämlich verhindern, dass zu viele Migrant*innen auf einem Haufen lebten. Man hat ja Angst vor unseren Ghettos.

Ich kenne also NRW. Ich weiß, wie es ist, hier aufzuwachsen. Aufgewachsen bin ich im Münsterland. Im Münsterland, wo man so stolz darauf ist, dass die AfD vergleichsweise niedrige Zahlen hat, wuchs ich zwischen Jugendlichen auf, die fanden, zu viele Ausländer auf dem Gymnasium wollen sie nicht. Zwischen Erwachsenen, die Kindern auf dem Schulhof verboten, ihre Muttersprachen zu sprechen. Zwischen Rentner*innen, die sich mit mir anfreunden wollten, indem sie mir von ihrem Einsatz an der Ostfront erzählt haben.

Meine Mutter arbeitete als Reinigungskraft in Privathäusern und nahm mich regelmäßig mit. Während meine Mitschüler*innen behaupteten, sie hätten von ihren Großeltern nie etwas über den Krieg gehört, wurden vor mir Fotoalben und Notizbücher rausgeholt. Ich war 8 Jahre alt, und mir wurden Gedichte und Zeichnungen aus der Kriegsgefangenschaft gezeigt. Diese alten Männer zeigten mir stolz ihre Souvenirs aus der Zeit, in der sie in mein Heimatland einfielen und Millionen Menschen ermordeten. Zuhause sprachen meine Eltern auch über nichts anderes.

Mein Vater war obsessiv mit dem Zweiten Weltkrieg. Wie soll er das nicht gewesen sein? Seine Mutter wurde auf dem Arm ihrer Mutter als Antwort auf den Angriff der Deutschen von Stalin gen Osten deportiert, und sein Vater floh auf dem Arm seiner Mutter unter Beschuss aus Stalingrad. Abends schauten wir sowjetische Filme, in denen man Naziverbrechen ganz anders darstellte, als in den paar Spielfilmen, die in Deutschland zu dem Thema produziert worden sind. Die 5.295 von den Deutschen verbrannten Dörfer in Belarus werden in diesen Filmen nicht ausgelassen. Die Vergewaltigungen und Massenmorde werden gezeigt.

Ich war ein Kind und lebte in einer Welt, in der der Krieg noch lange nicht zu Ende war. Bei meinen deutschen Mitschülern schien das nicht der Fall. Sie fanden mein ständiges Fragen: „Was hat dein Opa im Krieg gemacht?“ komisch. Entweder sie sagten: „Er war ein Deserteur.“ Oder sie fanden mich einfach komisch.

Die Studie „Opa war kein Nazi“4 zeigte, dass die Enkelgeneration um die 2000er herum davon ausging, dass nur 1 Prozent der eigenen Angehörigen an Verbrechen beteiligt, 13 Prozent wären im aktiven Widerstand gewesen. Wenn die eigene Familie auf der anderen Seite der Geschichte steht oder man sich mit der eigenen Geschichte befasst, dann weiß man, dass das nicht stimmen kann.

Wenn ich durch den Hürtgenwald laufe, graut es mich. Ich habe das Gefühl, es ist ein Geisterwald. Und wenn ich aus dem Wald herauslaufe und einem Menschen begegne, dann frage ich mich: Siehst du die Geschichte, die ich sehe? Zwischen jedem Baum und unter all dem Laub und Moos? Sehen nur die Nachfahren der Opfer der Nazigewalt die Geister?

In der Stadt im Münsterland, in der ich aufwuchs, wurde eine Synagoge verbrannt.5 Ein jüdischer Fleischer wurde enteignet. Noch heute kann man dort Fleisch kaufen, aber nicht von einem jüdischen Fleischer. Auf dem Marktplatz hingen riesige Hakenkreuzfahnen. Der Marktplatz war nach dem Führer benannt. Ich bin nicht in dieser Stadt geboren. Und trotzdem weiß ich das. Und manchmal kann ich nachts nicht schlafen, weil ich mich frage, welcher dieser Männer, die mir Fotos, Geschichten und Kekse gaben, an dem Brand in der Synagoge beteiligt war. Eine kleine Stadt, in der die meisten einander kennen. An einem zentralen Platz gelegen stand die Synagoge. Ich weiß, dass irgendwer von diesen Menschen zumindest wusste, wer es war. Und ich habe keine Worte für das Gefühl, das ich empfinde, wenn ich daran denke, dass keiner meiner Mitschüler nachgefragt hat. Wer war es, Opa? Warst du es, Oma? Wer hat sie angezündet? Wieso hat niemand nachgefragt?

Für mich ist die rechte Politik in unserem Land keine Überraschung. Leider. Ich bin queer und migrantisch. Ich wusste, dass es ein „immer wieder“ geben kann. Seit Jahren reden meine Freund*innen und ich darüber, was wir tun, wenn „es“ so weit ist. Nie fragt jemand von uns, was wir mit „es“ eigentlich meinen.

Wir wohnen in Sachsen. Und der große Unterschied zu NRW ist, dass man in NRW mancherorts immer noch behaupten kann, dass doch alles okay ist. Man rollt die Augen über den Osten. Viele machen Witze über den Osten. Aber sich solidarisieren, das machen sie nicht.

In Sachsen sind wir die Hitlergrüße gewöhnt. Da fährt man nicht einfach so raus in die Berge zum Wandern, egal wie wunderschön sie sind. Da wird man auf CSDs von Nazigruppen verfolgt. Da bauen völkische Siedler ihre Strukturen in ganzen Städten seit Jahren auf. Da gibt es Städte, in die ziehen Nazis aus ganz Deutschland und unterwandern Stück für Stück die gesamte Infrastruktur. Und in all den Jahren, die ich mich nun schon in Ostdeutschland organisiere und demonstriere, waren es immer die selbstorganisierten antifaschistischen Gruppen, die das Leben von Queers, Obdachlosen, migrantischen und nicht-weißen Menschen geschützt haben. Es waren nicht die Polizisten.

Letztes Jahr auf dem CSD der mittelsächsischen Stadt Döbeln erlaubte es die Polizei, dass ein Nazimob den CSD die gesamte Strecke verfolgte6. Auf vielen Demos auf dem Hinterland, in dem die Organisator*innen die Polizei teilweise anflehten, sie genug vor den Nazis zu schützen, steht man immer wieder Gesicht zu Gesicht mit Nazis.

Auch in Westdeutschland konnte man sich nicht auf die Polizei verlassen, als 9 Menschen in Hanau von einem Faschisten ermordet wurden. Die Polizeinotrufzentrale war nicht erreichbar. Bis heute wurde das nicht aufgearbeitet. Es wurden keine Konsequenzen gezogen.

Seit Jahren organisiert man sich in Ostdeutschland gegen Faschismus. Das müssen wir tun, denn die freien Sachsen, der Dritte Weg und die AfD regieren schon längst unsere Kleinstädte und Dörfer. Und die CDU stimmt gemeinsam mit rechtsextremen Parteien in den Stadträten ab7. Da ist es nicht mehr fünf vor zwölf. Und ich spüre von Westdeutschland immer nur den verächtlichen Blick. Einen Witz haben viele auf den Lippen, aber die wenigsten unterstützen unsere Kämpfe.

In Plauen gab es einen Begegnungsort am Bahnhof. Die Räumlichkeiten gehören der Deutschen Bahn. Der Verein Colorido e.V. arbeitet seit Jahren für eine demokratische Zivilgesellschaft. Die Deutsche Bahn findet aber einen demokratischen Verein nicht neutral genug und möchte ihn aus den Räumlichkeiten rausschmeißen⁸. Stattdessen hängen dort jetzt Neonazis rum.

In Wurzen möchte die Stadt den Verein „Netzwerk für Demokratie“ nicht mehr mit Geldern unterstützen. Jetzt verweigert die Stadt dem Netzwerk sogar Spenden, die der Stadt keinen Cent gekostet hätten8. Gleichzeitig ziehen inzwischen auch Neonazis aus Westdeutschland nach Wurzen und bauen ihre Strukturen auf. Einen bundesweiten Aufschrei gibt es selten.

Ich würde mir wünschen, dass es Veranstaltungen wie diese jeden Tag in jeder Stadt und jedem Dorf in Deutschland gäbe. Ich würde mir wünschen, dass westdeutsche Menschen, die für eine Demokratie kämpfen, ostdeutsche Kämpfe unterstützen. Ich würde mir wünschen, dass sie neugierig werden und Gespräche führen. Ich würde mir wünschen, dass wir alle von den zivilgesellschaftlichen Initiativen in Ostdeutschland lernen. Denn egal, was sie machen: Kochabende, Fahrradwerkstätten, Jugendtreffs, Gartengruppen oder Demos – sie sind immer zuerst antifaschistisch.

Als sich eine Gruppe von Menschen in Waldheim organisierte, um den Montagsdemos von völkischen Gruppen etwas entgegenzusetzen, hielt ein seit seiner Jugend engagierter Freund von mir eine Rede. Daraufhin erzählte mir eine Frau, wie sie seither den Gegenprotest mitorganisiere. Sie sagte: „Ich war mein Leben lang unpolitisch und habe nichts mit all dem zu tun haben wollen. Aber dann habe ich verstanden, dass Antifaschismus kein böses Wort ist, sondern das Mindestmaß an Anständigkeit in unserer Zeit. Der kleinste gemeinsame Nenner.“

Morgen sind Wahlen in NRW. Als ich in Leipzig letztes Jahr zu den Landtagswahlen ging, habe ich zu meinen Freunden scherzhaft gesagt: „Lass uns ein Selfie machen, es könnte unsere letzte Wahl sein.“ Wir haben gelacht, aber es gleichzeitig ernst gemeint.

Bei jeder Wahl frage ich mich das: Wie viele Wahlen werden wir noch haben? 1933 waren es die Konservativen, die die NSDAP hofierten. 2025 war es die CDU, die mit der AfD zusammen Politik auf Bundesebene machen wollte. Es sind CDU-Politiker, die uns immer wieder vor dem Linksrutsch warnen, während der rechtsradikale Vater des Mörders in Hanau immer noch die Familien der Opfer bedroht.

In Oldenburg wurde Lorenz A.8 von hinten mit mehreren Schüssen von einem Polizisten erschossen. In Hessen gab es im Zusammenhang mit den Drohbriefen des NSU 2.0  Beweise, dass die Täter Informationen von einem Polizeicomputer erhalten hatten99. Die Bundeswehr meldete vor einigen Tagen die höchste Zahl an Ausschluss von Soldaten aufgrund rechtsradikaler Gesinnung1010. In Cottbus wurde ein Hausprojekt von Rechten angegriffen. 2024 starb eine bulgarische Familie nach einem Brandanschlag in Solingen.1111 In Halle, nur 20 Minuten von Leipzig entfernt, schützte nur eine alte Tür die jüdische Gemeinde an Yom Kippur vor einem bewaffneten Nazi-Terroristen1122.

Und so wie all diese rechten Angriffe miteinander zusammenhängen, sollten auch wir, als antifaschistische Bürger*innen, Netzwerke spannen im ganzen Land, die stärker sind als ihre Gewalt.

Deutschland führt wieder die Wehrpflicht ein. Ich denke an meine Mitschüler*innen, die mir von den Großeltern erzählten – alle desertiert. Diese Unwissenheit über die eigenen Familiengeschichten in diesem Land lässt mich nicht los.

Ich gestehe euch etwas: Ich glaube an Geister. Ich glaube daran, dass wir unsere Geschichte aufarbeiten müssen, wenn wir nicht von ihnen aufgesucht werden wollen.

Und als Kulturwissenschaftler*in weiß ich, dass wir das in Deutschland nicht gemacht haben. Was bringt ein großes Denkmal in Berlin, wenn die wenigsten Menschen, mit denen ich täglich spreche, wissen, was ihre Großeltern gemacht haben? Dabei ist es nicht einmal schwer, all das herauszufinden. Die Archive sind offen.

Und ich sage das voller Frust im Bauch, denn ich arbeite gerade an einem Buch, und die Archive in dem Land, aus dem ich komme, wurden von einer faschistischen Regierung verschlossen. Und trotzdem arbeite ich die Geschichte meiner Vorfahren auf. Und das müsst auch ihr.

Es ist unklar, wie oft wir noch wählen gehen dürfen. Wir müssen alles – und ich meine wirklich alles – dafür tun, dass wir für immer werden wählen gehen können. Es heißt immer, dass wir es unseren Kindern schuldig sind.

Ich glaube aber an Geister. An all die unerzählten Geschichten und abgebrochenen Lebenswege von Menschen, die dem Faschismus zum Opfer fielen. In ihrer Schuld stehen wir. Dankeschön.

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  1. Die Zahlen variieren von 33.000 bis 55.000, wobei bis heute Körper von gefallenen US-Soldaten gefunden werden. ↩︎
  2. Die Zal variiert von 12.000 bis 28.000. ↩︎
  3. https://www.ardmediathek.de/video/alpha-doku/die-schlacht-im-huertgenwald/ard-alpha/Y3JpZDovL2JyLmRlL2Jyb2FkY2FzdFNjaGVkdWxlU2xvdC80MTE3Mjg3OTM4MTNfRjIwMjRXTzAwOTQzOEEw ↩︎
  4. file:///home/kitzl/Downloads/opawarkeinnazioriginalversion100.pdf ↩︎
  5. https://www.katholisch-ibb.de/kirchen-raeume/juden-in-ibbenbueren ↩︎
  6. https://x.com/jakobspringfeld/status/1836816864330055713?lang=de ↩︎
  7. https://www.tagesschau.de/inland/regional/sachsen/mdr-wurzen-entscheidung-des-stadtrats-gegen-das-demokratie-netzwerk-sorgt-fuer-kritik-100.html ↩︎
  8. https://www.amnesty.de/aktuell/deutschland-polizeigewalt-rassismus-lorenz-nelson ↩︎
  9. https://fragdenstaat.de/artikel/exklusiv/2023/10/der-nsu-20-war-nicht-allein/ ↩︎
  10. https://www.tagesschau.de/investigativ/wdr/bundeswehr-rechtsextremismus-134.html ↩︎
  11. https://www.spiegel.de/panorama/justiz/solingen-lebenslange-haft-fuer-vierfachen-mord-durch-brandanschlag-a-2ea4178f-6e73-477b-a5a6-c65732e21b5bl ↩︎
  12. https://www.bpb.de/mediathek/video/523889/ich-habe-den-rechtsextremen-anschlag-von-halle-ueberlebt/ ↩︎
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